Turnen
wie Tarzan (Ursula Ott)
An
der Friedrich-Ebert-Grundschule in Band Homburg gibt es jeden Tag Sport. Das
Ergebnis: Weniger Gewalt, weniger Haltungsschäden, mehr Konzentration.
Jeden
Tag eine Stunde Sport! Eine Horrorvorstellung für viele Eltern, bei denen das
Wort Turnunterricht Erinnerungen weckt an muffige Umkleidekabinen, sadistische
Sportlehrer und weinende kleine Dickerchen, die keiner in der Mannschaft haben
wollte. Glücklich jene Jungs, denen die Mama eine Entschuldigung wegen
grippalen Infektes schrieb, und jene Mädchen, die frühpubertär bereits ihre
Tage hatten - sie durften von der Bank am Rande zugucken, wie die anderen zum
zehnten Mal dasselbe stupide Völkerball kloppten.
Nichts von alldem findet sich in der Friedrich-Ebert-Grundschule in Homburg
wieder. Jeden Tag Sport - und alle gehen hin. Wenn die Schulglocke klingelt,
steuert kein Einziger die rettende Bank am Rande an. Bis auf Karsten (6), der am
Vortag in eine Glasscherbe getreten ist und nicht mitturnen darf. "So was
Blödes", mault der Blondschopf mit den schicken Nikes, "ausgerechnet
heute, wo Ballspielen dran ist."
Was Sportlehrer Wilhelm Laupus seinen Erstklässlern bietet, erinnert kaum mehr
an die Turnstunde von einst, eher an eine Mischung aus Kindergeburtstag und
Fitness-Studio.
"Lord of the Dance" schallt aus der Profi-Musikanlage, und die Kinder
beginnen mit rhythmischen Warmups: auf der Stelle gehen, nach links hüpfen,
nach rechts hüpfen, Hampelmann. Danach dürfen sie Ball spielen - und zwar so,
wie sie gerade Lust haben. Während ein Junge seinen Ball wie besessen gegen die
Wand donnert, finden zwei Mädels es lustiger, sich unterm T-Shirt einen
Schwangerenbauch auszustopfen. Selbst der einzige übergewichtige Junge in der
Klasse trippelt mit Feuereifer seinen Ball durch die Halle. Die Stunde endet mit
einer Entspannungsübung zu Meditationsmusik. Dann darf im Schneeballsystem
einer den nächsten "wecken" - und eine sichtlich gut gelaunte Bande
von 70 Kindern strömt der nächsten Schulstunde zu.
Auch in Bad Homburg waren die meisten Eltern skeptisch, als Schulleiter Klaus
Bethge ihnen vor sechs Jahren vorschlug, sich an einem Forschungsprojekt der
Universität Frankfurt zu beteiligen. Die Sportwissenschaftler wollten wissen,
wie sich eine tägliche Sportstunde auf Gesundheit, Sozialverhalten und
Schulleistungen auswirkt. Da die Stundentafel nicht erweitert werden durfte,
musste bei anderen Fächern gekürzt werden, zum Unmut von Lehrern und Eltern.
Bethge, selbst Sportlehrer und in der Freizeit Tennisspieler und Mountainbiker,
setzte sich durch, und nach Abschluss des Projektes sah alles ganz anders aus.
Die Forscher hatten den Ebert-Schülern durchweg bessere Leistungen attestiert
als den Vergleichsschülern, die die normale Dosis an Schulsport verabreicht
bekommen hatten. Vor allem Mädchen, schwache Sportler und Übergewichtige
hatten am meisten profitiert: Sie konnten länger laufen und den Medizinball
weiter werfen. "Die Eltern rannten uns die Bude ein: Macht das bloß
weiter!", berichtet der Schulleiter. Und jedes Schuljahr nimmt er noch mehr
Schüler von auswärts auf, die speziell wegen der täglichen Sportstunde
kommen.
Regelrechte Liebeserklärungen verfassten die Schülerinnen und Schüler, als
sie neulich Aufsätze über ihre tägliche Sportstundeverfassen sollten. Manuela
aus der 3d fühlt sich beim Seilturnen "wie Tarzan, wenn er die Lianen
erklettert und sich damit durch die Luft schwingt".
Anne-Sophie aus der 3a hat es am liebsten, "wenn wir aussuchen dürfen, was
wir machen wollen" - das so genannte Freiturnen. Und Kiona dichtet:
"Eine Stunde Sport am Tag, das ist es, was jeder mag."
Noch vor zehn Jahren gab es in der Friedrich-Ebert-Schule üble Schlägereien in
der großen Pause. Zwar hat die reichste Gemeinde Deutschlands eine
privilegierte Klientel, "aber auch da gibt es Wohlstandsgeschädigte",
seufst Schulleiter Bethge. Oft reichten Kleinigkeiten, um den
Schulhof zum Kriegsschauplatz zu machen. "Da zeigt der eine, was er im
Karate-Kurs gelernt hat, der andere sagt, du Arsch, und schon geht es los.
Schließlich waren die Eltern aufgefordert worden, sich an der Pausenaufsicht zu
beteiligen. Diese wurde wieder abgeschafft, weil in den vergangenen Jahren
"so gut wie gar nichts mehr passiert ist!, sagt Bethge. Dazu auch bei, dass
auf dem Pausenhof jetzt jede Menge Klettergerüste, Frisbees und Rollerblades
bereitstehen. Nicht nur die Kloppereien, sondern auch die Unfälle sind um 30
Prozent gesunken, seit die Kinder sich in der Turnhalle austoben. "Früher
plumpsten die Kinder regelrecht hin", so Bethge, "heute fallen sie,
geschickter, rollen sich ab und fangen sich mit den Händen."
Gerade in dieser gehobenen Wohngegend, wo mittags um zwölf die Mamas mit BMW
und Mercedes
der gehobenen Typenklassen bereitstehen, um ihre Sprösslinge zu chauffieren,
fehlt , den Kindern die Bewegung. "Viele sitzen zu oft vor dem Fernseher,
nur wenige klettern auf Bäume oder springen über Bäche", so Sportlehrer
Laupus. Die Folgen lassen sich in seinen Stunden beobachten. Wenn es darum geht,
den Ball eine Linie entlang zu dribbeln, scheren einige weit nach links und
rechts aus. Und das Kommando "Jetzt legen wir uns mal auf den Rücken und
atmen tief durch" ist für ein paar Jungs die totale Provokation. Der eine
fängt an, seine Nachbarn durch zu kitzeln, der zweite lacht, der dritte
klatscht nervös in die Hände. "Ruhig, habe ich gesagt", wiederholt
Laupus. Es dauert, bis die Zappelphilippe zur Entspannung finden. Der
Deutschlehrer, der die Nachfolgestunde lehrt, kann sich bedanken.
"Inzwischen ist das Kollegium durchweg begeistert", so Laupus. Manche
Kinder, die vorher keinen Satz gerade auf; Papier schreiben konnten und
Buchstaben verdrehten, haben durch die Bewegung im Raum gelernt, sich auch auf
dem Papier besser zu orientieren. Fast alle können besser stillsitzen und sich
konzentrieren, nachdem sie sich körperlich richtig verausgabt haben. Und 25
Prozent mehr als früher schaffen es aufs Gymnasium.
Allein die Alarm-Meldungen der Krankenkassen müssten eigentlich dafür sorgen,
dass das Beispiel Schule macht: Jeder zweite Schulanfänger hat einen
Haltungsschaden, jeder dritte wiegt zu viel. Dennoch wird überall zuerst an den
vorgeschriebenen drei Sportstunden pro Woche gekürzt, wenn Lehrer fehlen, und
fast überall fehlt der Platz, um jedes Kind täglich turnen zu lassen, ,
Das Problem mit der Stundentafel haben die Klassenlehrer der
Friedrich-Ebert-Schule gelöst, indem sie aus. Deutsch, Sachkunde, Kunst und
Musik ein Paket schnüren, von dem sie zwei Stunden für Sport abzweigen. Geld für
Bälle und Geräte verdanken sie dem Forschungsprojekt, aber auch der betuchten
Eltern-Klientel, die eine Musikanlage für 10 000 Mark spendierte. Und die
Turnhalle der Friedrich-Ebert-Schule reicht nur aus, weil zwei oder drei Klassen
gleichzeitig unterrichtet werden - von zwei Lehrern.
Ein Wunder, wie gesittet es zugehen kann mit 70 Kindern in einer Halle. Kleine
Rituale helfen, den Haufen zu zähmen: In Fünferreihen sitzen die Schüler
nebeneinander, immer nur eine Reihe steht gleichzeitig auf und holt, Bälle. Und
selbst im größten Chaos bleiben alle wie angewurzelt stehen, sobald das
Tamburin ertönt und der Lehrer etwas sagen will. "Das lernen selbst die
Kleinen schnell", sagt Laupus. Er will nicht nur Muskeln trainieren,
sondern auch Zuhören, Rücksicht und Fairplay. "Das müssen die Kinder
heute ganz neu lernen, dass man aufhört zu boxen, wenn einer schon am Boden
liegt", so Wilhelm Laupus, "in den Filmen, die im Fernsehen laufen,
wird ja munter weitergeprügelt."
Quelle: Die Woche, 6. Oktober 2000, 39
